TEXTGRÖSSE:
Reinhold MessnerExtrembergsteiger, Kletterkünstler, Politiker
Entscheidung auf Messers Schneide


1970, im Eis des Nanga Parbat geschah für Reinhold Messner eine Tragödie, denn er verlor seinen Bruder. Andererseits markierte die Durchsteigung der höchsten Wand der Welt und die erste Überschreitung eines Achttausenders eine wichtige Etappe in Messners Weg zur internationalen Bergsteiger-Elite. Jörg Steinleitner sprach mit dem Mann, der wie keiner die Menschen polarisiert über seinen Schicksalsberg, über Liebe, Angst, Visionen und Instinkte.


Jörg Steinleitner:  Herr Messner, Sie verdanken dem Berg, dem Sie Ihr neuestes Hörbuch "Nanga Parbat – Der Schicksalsberg" widmen, größtes Unglück und größtes Glück. Hassen Sie ihn oder lieben Sie ihn?

Reinhold Messner:  Ich persönlich hasse keinen Berg und ich liebe auch keinen. Ich habe ein sachliches Verhältnis zum Berg. Der Nanga Parbat war die schlimmste Tragödie meines Lebens. Es war eine menschliche Tragödie, bei der ich meinen Bruder verlor. Aber nachdem ich seit Anfang an der Menschennatur auf der Spur bin und nicht der Bergnatur, habe ich durch die Erfahrungen am Nanga Parbat und vor allem durch die Anfeindungen danach auch sehr viel darüber gelernt, wie der Mensch eigentlich tickt, und wie er im Innersten zusammengehalten wird. Darum geht es mir.

Jörg Steinleitner:  Sind Sie im Kern noch derselbe Reinhold Messner, der Sie 1970 waren, als Sie den Nanga Parbat bezwangen? Oder haben Sie durch die extremen Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte, durch Freundschaften wie mit dem Dalai Lama neue Wertvorstellungen entwickelt?

Reinhold Messner:  Natürlich habe ich neue Wertvorstelllungen entwickelt. Ich war mit 25 ein völliger naiver, von Idealen geprägter Mensch. Heute sehe ich, wie unmenschlich viele Menschen sind, gerade solche, die sich als große Bergkameraden darstellen. Heute sind für mich Menschen wichtig geworden wie der Dalai Lama oder der Schriftsteller Christoph Ransmayr. Ich verkehre vielmehr in Künstlerkreisen als in Bergsteigerkreisen.

Jörg Steinleitner:  Ihr Leben als Grenzgänger, Politiker, Vortragsreisender zwingt sie dazu, viele Tage des Jahres weit weg von Ihrem Schloss im Vinschgau zu verbringen. Sie haben aber eine Frau, Familie, Kinder – fühlten und fühlen Sie sich nicht oft zerrissen, weil die Berge oder andere Herausforderungen Sie lockten und Sie Ihre Heimat deshalb verlassen mussten?

Reinhold Messner:  Ich bin in der Tat ein Zerrissener zwischen dem Weggehen und dem Heimkommen. Daheim sehne ich mich nach draußen und draußen sehne ich mich nach daheim. Meinen Erfolg aber verdanke ich in erster Linie ein paar Frauen – von meiner Mutter bis hin zu meiner zweijährigen Tochter – die es mit diesem Halbnomaden aushalten, der ich nun einmal bin. Hätten die es nicht mit mir ausgehalten, dann wäre ich vielleicht verzweifelt. Ein Mensch, der so weit hinauf geht, der braucht ein ganz starkes Nest zu Hause.

Jörg Steinleitner:  Sie sind eine ungeheuerlich starke Persönlichkeit und wirken vollkommen autark. Lehnen auch Sie sich gelegentlich an jemanden an – einen Freund oder Ihre Familie? Suchen Sie Rat oder Schutz?

Reinhold Messner:  Ich bin ein ganz normaler Mensch, der stark dargestellt wird. Ich selbst stelle mich gar nicht stark dar. Ich erzähle in meinen Büchern und Hörbüchern in erster Linie von Ängsten und Zweifeln. Auch brauche ich eine starke Liebesbeziehung, eine Familie. Ich brauche einen Rückhalt, um hinauszugehen in die Welt, um zu kämpfen. Denn alles, was ich anpacke, wird sofort niedergemacht. Aber bisher bin ich zum Schluss, allen Widrigkeiten zum Trotz, immer ein Stück weitergekommen und ich hoffe, das bleibt auch so.

Jörg Steinleitner:  Aber es gibt doch weltweit Millionen Menschen, die Sie und Ihre Arbeit bewundern ...

Reinhold Messner:  Es gibt viele Menschen, die verfolgen, was ich mache. Aber ich persönlich möchte nicht bewundert werden. Ich möchte verstanden werden. Ich möchte das tun können, was ich am besten kann. Und gerade das wurde mir oft untersagt. Meistens ohne Grund. Vor allem in der inneren Bergsteigerszene ist das so geworden, vermutlich, weil ich so erfolgreich geworden bin.

Jörg Steinleitner:  Vor was haben Sie Angst?

Reinhold Messner:  Ich habe Angst vor meiner eigenen Schwäche, vor Fehlern, die ich mache, vor meiner eigenen Aggressivität manchmal. Denn ich kann große Energien entwickeln, wenn mir Widerstände entgegengebracht werden. Heute, mit 60, bin muss ich ja eigentlich niemandem mehr etwas beweisen. Aber ich habe noch immer Visionen, die ich vollenden will. Das "Messner Mountain Museum" kann zwar nicht zum Absturz führen, aber zur Pleite. Ich investiere in dieses Projekt, bei dem ich in den nächsten Jahren alle zwei Jahre ein neues Museum eröffnen werde, bis die insgesamt fünfteilige Vision vollständig ist, beinahe ausschließlich eigenes Geld. – Viel mehr als ich in alle meine bisherigen Expeditionen investiert habe.

Jörg Steinleitner:  Sie haben über das Klettern einmal etwas gesagt, das man den schönen Künsten auch gerne nachsagt: Dass es an sich nutzlos ist. Sie haben dies dann zwar relativiert und in einen größeren Kontext übertragen. Aber dennoch: Ist diese direkte, praktische "Nutzlosigkeit" der Kletterkunst mit ein Grund für Ihr politisches Engagement im Europaparlament oder für Ihr soziales Engagement zum Beispiel für die Kinder im Diamir Tal, denen Sie in unmittelbarer Nähe Ihres Schicksalsberges eine Schule bauten?

Reinhold Messner:  Dass das Bergsteigen nutzlos ist, daran ist gar kein Zweifel. Und dass es der Kunst näher liegt, als dem Sport, das ist auch klar. Dem Diamir Tal fühle ich mich verbunden, weil ich mir dort die Grundlage meiner Existenz geholt habe. Und ich weiß, dass die Kinder dort ohne Hilfe, ohne Schule, keine Überlebenschance haben. Dass ich in die Politik ging, hatte damit zu tun, dass ich gebeten wurde. Aber ich war sowieso schon immer ein politischer Mensch. Zur Nutzlosigkeit des Bergsteigens möchte ich folgendes sagen: "Die Eroberung des Nutzlosen" – ich zitiere den Philosophen Wilhelm Schmid – zwingt uns über die Sinnstiftung nachzudenken. Mein Tun ist zwar nutzlos, aber ich mache es mir sinnvoll. Und dieses Büchlein von Wilhelm Schmid handelt vom Sinnstiften in einer Welt ohne Sinn. Das ist übrigens auch der Schlüssel zum politischen Arbeiten in Europa. Denn wenn wir nicht fähig werden, Sinn zu stiften, in dieser Welt, dann gehen wir unter. Andere Länder fragen gar nicht nach dem Sinn, die haben ihn im Gefühl. Wir aber haben so viel darüber gegrübelt, dass wir glauben, den Sinn vom Himmel empfangen zu können. Das ist aber nicht so, wir müssen den Sinn selber geben. Und wenn ich eine Bergtour ausdenke und diese dann in die Tat umsetze, dann stifte ich Sinn.

Jörg Steinleitner:  Sie selbst haben mit Ihrem Sohn kürzlich die Wüste durchquert. Warum haben Sie ihn nicht auf eine extreme Bergtour mitgenommen? Wollten Sie ihm damit etwas signalisieren?

Reinhold Messner:  Ja, ganz richtig. Es geht im Leben eigentlich nicht um Berge oder um Wüsten – es geht um Träume, Visionen – man muss über seine eigenen Träume nachdenken und sie dann in die Tat umsetzen. Allerdings kommt die Idee, die Tenere auf einem Kamel zu durchqueren, von meinem Sohn. Er ist ein Kamel-Fetischist. Ihn interessiert das Bergsteigen relativ wenig. Mein Sohn hat aber auch schon seine Visionen. Er hat gesagt, dass er nach dem Abitur wie damals Heinrich Bahrt von XX nach Timbuktu reiten will. Ich will ihm nur sagen: Er soll nicht in meine Fußstapfen treten – wenn er das tut, ist er schon auf dem Holzweg.

Jörg Steinleitner:  Ihr Bruder wäre vielleicht noch am Leben, wenn Sie damals am Nanga Parbat eine andere Abstiegsroute gewählt hätten. Unser Leben zwingt uns ständig Entscheidungen zu treffen und je einflussreicher wir sind, umso tragischer können die Folgen einer Fehlentscheidung sein. Wie gehen Sie damit um?

Reinhold Messner:  Die Entscheidung am Nanga Parbat war eine Entscheidung auf Messers Schneide. Ich bin überzeugt, wenn wir nicht abgestiegen wären, dann wären wir beide tot. Und wir haben eben diese Entscheidung getroffen, aber die war nicht mehr rückgängig zu machen. Während wir etwas tun, wissen wir nur, dass es um Leben und Tod geht. Aber nicht, wie es ausgehen wird. Erst hinterher kann man ein anderes Urteil treffen. Aber wir hätten damals sowieso nur knapp vor dem Gipfel anders entscheiden können. Aber das haben wir eben nicht getan. Wir haben nicht einmal abgewogen. Es war für uns beide selbstverständlich, dass wir beide die Verantwortung für diese Entscheidung tragen. Jetzt habe ich überlebt und nun trage natürlich ich die ganze Verantwortung. Es ist das Schicksal des Überlebenden. Aber ich muss auch betonen: Ich bin der einzige, der das ganze Geschehen real, sachlich und selbstverständlich erlebt. Alle Außenstehende sagen, wie ist das möglich, dass der überlebt und sein Bruder stirbt. Wenn diese Menschen in derselben Situation wären, dann würden sie genauso entscheiden. Geht es ums Überleben, wird eben nicht moralisch entschieden, sondern instinktiv. Es ist doch vollkommen klar, dass kein gesunder Mensch seinen Bruder einfach liegen lässt. Das denken sich nur Leute aus, die psychisch nicht ganz stabil sind.

Jörg Steinleitner:  Sie sprechen von Ihren Feinden ...

Reinhold Messner:  Das ist natürlich auch ein Geschäft. Ich bin eine gute Wirtspflanze für etliche Parasiten, die durch mich etwas verkaufen mit irgendeinem Geschwafle. Das hat mit seriöser Diskussion nichts zu tun.

Jörg Steinleitner:  Sie waren vor einigen Wochen in einer Fernsehsendung zu sehen, in der auch ein Affe, der bei Filmen mitwirkt, zu Gast war. Dieser Affe, so hatte man den Eindruck, saß am liebsten bei Ihnen auf dem Schoß. Meinen Sie, das könnte damit zu tun haben, dass Sie trotz Ihrer Intellektualität stets ungeheuer erdverbunden geblieben sind?

Reinhold Messner:  Ich habe ja selber in der Sendung gesagt, offensichtlich teilen wir beide, der Affe und ich, affenartige Verhaltensmuster. Aber das Interessante war ja: Man hat mir vor der Sendung gesagt, ich soll dem Affen nicht in die Augen sehen und ihn ja nicht anfassen. – Und plötzlich springt der auf meinen Schoß und macht an dem Stein an meiner Kette herum. Ich fand das auf einmal ganz lustig. Er hat mir ja sogar meine Schuhe ausgezogen! Aber ich habe ja auch überhaupt kein Problem damit. Ich mag Affen gerne, weil ich glaube, dass wir Menschen etwas Affenartiges haben.

Jörg Steinleitner:  Herr Messner, vielen Dank für das Gespräch!



Das Interview wurde in Auszügen abgedruckt in HörBuch 2004/II.

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