TEXTGRÖSSE:
Urs SchaubSchriftsteller und Theatermann
Eine Sprache finden für Sex


Der Schweizer Schriftsteller und Theatermann Urs Schaub, 54, hatte mit seinem ersten "Kommissar-Tanner"-Roman sofort großen Erfolg. Mit Jörg Steinleitner sprach er über den zweiten "Tanner"-Band Das Gesetz des Wassers, außerdem über Geldgier, Pornografie und das Schweigen.


Jörg Steinleitner:  Herr Schaub, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem zweiten Kommissar-Tanner-Roman "Das Gesetz des Wassers". Seit Band I sind Sie bekannt für Detailreichtum und kulturhistorischen Hintersinn – welche Symbolik verbirgt sich hinter dem neuen Titel?

Urs Schaub:  Das Wasser ist ein Bild, mit dem ich mir das Leben vorstelle. Ein simples, physikalisches Bild, dieser Kreislauf des Wassers, es darf kein Tröpfchen verloren gehen. Wenn es in meinem Leben eine Quintessenz gibt, dann ist es vielleicht das. Es ist eine Lüge, ein Trugschluss, wenn wir denken, wir Einzelnen könnten keinen Anteil an der Veränderung leisten. Das meint dieses Tröpfchen. Das meint das Gesetz des Wassers.

Jörg Steinleitner:  Natürlich gibt es in Ihrem Roman auch Tote. Was fasziniert uns Menschen so sehr am Mord?

Urs Schaub:  Das ist das, was uns am meisten erschreckt. In meinem ersten Tanner-Roman war das Grundthema ja die Verwandlung eines Menschen zu jemandem der das tut: morden. Das ist eine meiner Urängste: die Verwandlung eines Menschen. Ich hatte einen Onkel, ein sanfter Riese, aber einmal hat er mich mitgenommen in ein Fußballstadion und er hat sich zwei Stunden lang in ein Monster verwandelt, hat geschrieen, als wollte er alle umbringen. Diese Verwandlung hat mich sehr beeindruckt.

Jörg Steinleitner:  Während Sie uns einen spannenden Kriminalfall erzählen, machen Sie uns wunderbar nebenbei Appetit auf eine Menge geistesgeschichtlichen Wissens. In welchen Arbeitschritten konzipieren Sie einen derart komplexen und doch unterhaltsamen Roman?

Urs Schaub:  Das ist nicht so einfach zu beschreiben. Ich bin kein Konstrukteur, ich kann nicht gut planen. Ich schreibe total intuitiv und lasse mich leiten. Es ist für mich eine so tiefe Befriedigung zu schreiben, weil ich mich mittlerweile hinsetzen kann und es geschehen lassen kann. Ich sitze auf einer Kiste mit unendlich vielen Splittern Wissen. Es ist schwer zu wissen, habe ich das geträumt oder habe ich das erlebt? – Wenn man schreibt, dann entsteht aus diesen Splittern etwas Ganzes. Das ist eine ungeheuer lustvolle Beschäftigung.

Jörg Steinleitner:  Haben Sie nie etwas in einem Buch oder Lexikon nachgeschlagen?

Urs Schaub:  Doch, das schon – wenn ich mal ein Wort im Wörterbuch nachgucke, dann bleibe ich eine Stunde hängen – oder auch am Telefonbuch. Diese Art von Neugier nennt man vielleicht auch kindlich. Über den Wasserstoff, der in "Das Gesetz des Wassers" eine wichtige Rolle spielt zum Beispiel, habe ich nicht viel gewusst. Aber ich bin ein eifriger "Spiegel"-Leser, da bekommt man ein solides Halbwissen, das musste ich dann nur noch fundieren. Oder die Reise meines Großvaters, die habe ich recherchiert, da war ich wochenlang in Deutschland.

Jörg Steinleitner:  In erster Linie schöpfen Sie also aus persönlichen Erfahrungen.

Urs Schaub:  Ja, meine Lieblingssituation ist immer die: Ich gehe mit meiner Figur an eine Tür, an die ich klopfe und ich weiß noch gar nicht, was da passieren wird. Die Figur und ich, wir gehen gemeinsam hinein, dann treten meine Erfahrungen aus dem Hintergrund in den Vordergrund.

Jörg Steinleitner:  Wenn ein Autor heute wie Sie einen erfolgreichen Roman geschrieben hat, dann legt er im Halbjahres- oder Jahresrhythmus weitere nach. Warum haben Sie sich so lange Zeit gelassen für Ihren zweiten?

Urs Schaub:  "Tanner" erschien 2003. Gleich danach habe ich mit "Das Gesetz des Wassers" angefangen. Doch im Juni habe ich dann einen Job als Troubleshooter am Theater Kaserne Basel übernommen, das vor dem Konkurs stand – und jetzt bin ich immer noch da und das dürfte Ihnen ja auch bekannt sein, dass man als Autor von seinem ersten Buch keinesfalls leben kann. Ich habe Familie. Und dann gibt es natürlich meine Leidenschaft für das Theater. Ich habe so einen Job, der ist 42 Stunden lang bezahlt, aber eigentlich arbeite ich 60 oder 70 Stunden. So habe ich nur am Wochenende oder in den Ferien geschrieben. Mein Traum wäre es natürlich schon, immer zu schreiben.

Jörg Steinleitner:  Warum mögen wir Tanner von der ersten Seite an gerne, obwohl er, was uns ja auch nerven könnte, praktisch dauernd über Frauen nachdenkt und obwohl er, während seine Frau im Koma liegt, ins Bordell geht und mit anderen Frauen rummacht?

Urs Schaub:  Mir hat ein Psychiater nach dem ersten Buch gesagt, dass der Tanner eigentlich gar kein Gesicht hat. Da hat er Recht: Im ersten Buch ist das wirklich radikal. Ich habe ja immer nur durch Tanners Augen gekuckt. Aber dadurch eignet er sich wahnsinnig gut, für andere Menschen, ihm ein Gesicht zu geben. Im zweiten Buch habe ich nicht nur durch seine Augen gekuckt und trotzdem mag man ihn.

Jörg Steinleitner:  Obwohl er ständig an Sex denkt.

Urs Schaub:  Wenn Sie sich die Mühe geben würden, die Seiten zu zählen, die sich mit Sex beschäftigen, dann würden Sie feststellen, dass es relativ wenige sind. In der Schweiz wird mir das allerdings vorgehalten. Die Schweizer Krimiautoren hatten dieses Thema bislang ausgespart. Ich glaube, das Leben ist etwas anders, als sich die Leute das vorstellen.

Jörg Steinleitner:  Aber die Frau liegt im Koma und er geht ins Bordell.

Urs Schaub:  Was soll dieser Mann machen mit seiner schwerkranken Frau? Alle behaupten immer, sie würden sowieso nicht ins Puff gehen, niemand will die Sexseiten im Internet angekuckt haben. Man trifft selten jemanden, der sagt, ich mache das, ich finde das toll. Die einfache Gleichung, jemand der eine Frau hat, die er liebt und die im Koma liegt, der geht nicht ins Bordell, das ist eine kindliche Vorstellung. Die Welt ist nicht so. Außerdem müssen Sie bedenken, dass ich angefangen zu schreiben, weil ich meinem Sohn etwas über mich erzählen wollte. Da stand ich irgendwann vor der Frage: Soll ich jetzt Sex beschreiben oder nicht. Ich entschloss mich dazu, meine Sicht auf das Leben so komplett zu beschreiben, wie ich es kann. Ich möchte nicht, dass mein Sohn später einmal sagt: Warum lässt du dieses spannende Thema aus? Und jetzt gehört’s auch ein bisschen zum Tanner.

Jörg Steinleitner:  Wie wichtig ist es, die richtigen Worte für erotische Sachverhalte in der Literatur zu finden?

Urs Schaub:  Meine Generation ist ja aufgewachsen ohne Sprache für Sex. Und das war für mich eine Herausforderung, eine Sprache zu finden, zu der ich stehen kann. Natürlich ist die Grenze zur Pornografie schwer zu setzen. Kamasutra ist für manche Pornographie. Ich habe versucht eine Sprache zu entwickeln mit Bildern, die den Ehrgeiz haben, die Wucht oder die Peinlichkeit, aber auch die Schönheit dieses Vorgangs einzufangen.

Jörg Steinleitner:  Welche funktionale Bedeutung für Ihren Roman hat das Motiv von Tanners im Koma liegender Frau, der er täglich eine Geschichte aus "1001 Nacht" vorliest?

Urs Schaub:  Das Koma, das ist wie unter Wasser sein. Es ist ein extremes Bild, mit dem ich auch Erfahrungen aus meinem persönlichen Leben verarbeite. Zwar habe ich keine direkten Erfahrungen mit jemandem, der im Koma lag. Aber eine große Liebe von mir ist in meinen jungen Jahren gestorben. Das kann einen im späteren Leben behindern, befangen machen. Man steckt in einer Schwierigkeit: Man ist furchtbar allein, die andere Person ist unerreichbar, das hat mich interessiert. Unter Wasser ist man ja auch unerreichbar.

Jörg Steinleitner:  Die erste Frau, deren Brüste Tanner in diesem Roman berührt, sind die künstlichen der schönen Japanerin Michiko. Was halten Sie selbst von Silikonbrüsten?

Urs Schaub:  Ich würde das nie von einer Frau erwarten. Und es ist natürlich fatal, welche perfekten Bilder da in der Öffentlichkeit produziert werden. Ich versuche mir vorzustellen, unter welchem unsäglichen Druck aufwachsende Mädchen, die diese schönen Bilder sehen, stehen müssen. Nein, ich halte überhaupt nichts davon – mit einer Ausnahme: Ich habe kürzlich eine Sendung im Fernsehen gesehen über diese Problematik. Da ging es um eine Frau, die eine ganz ungerechte, die Seele belastende Unschönheit beseitigen wollte. Da ging es aber nicht um ein Idealbild.

Jörg Steinleitner:  Auch sozialkritische Töne schlagen einzelne Figuren in Ihrem Roman an. Bruckner geißelt die Machtsucht und Geldgier „aller Manager“. Wie stehen Sie dazu? Sie sind ja selbst ein Theater-Manager.

Urs Schaub:  Bei Bruckner ist das natürlich auch eine Maske, weil er selber geldgierig ist. Aber dennoch ist die Entwicklung abartig. In der Schweiz führen wir derzeit eine Diskussion über die Löhne der Chefs. Der Chef der Schweizer Bank UBS bezahlt sich 24 Millionen Schweizer Franken aus. Der verdient pro Tag gleich viel wie ein mittlerer Bauer in der Schweiz in zwei Jahren. Das finde ich einfach abartig. Ich selbst verdiene nicht besonders viel am Theater Kaserne Basel. Als ich noch in Berlin wohnte, musste ich einmal einen Bescheid zeigen und die Sachbearbeiterin fragte mich: „Was, Sie verdienen so wenig beim Militär?“ – „Ja“, sagte ich, das ist kein Militär mehr, das ist ein Kulturhaus.“ – „Aha“, sagte sie dann, „NUR KULTUR, dann ist das ja okay.“

Jörg Steinleitner:  Michel und Tanner können gut zusammen schweigen. Welche Bedeutung hat für Ihr eigenes Leben das gemeinsame Schweigen mit einer anderen Person?

Urs Schaub:  Das ist sehr wichtig. Ich kenne das eigentlich nur aus dem ländlichen Bereich. Ich hatte einen Patenonkel auf dem Bauernhof. Und ich habe das Schweigen dort mein ganzes Leben lang gesucht. Auch jetzt habe ich einen Bauernhof, auf dem ich ein- und ausgehen kann. Gerade im letzten Winter war ich wieder für eine Woche dort und habe mit dem Bauern im Wald gearbeitet. Wir haben schon auch gesprochen, aber vor allem viel geschwiegen. Das ist viel wert.

Jörg Steinleitner:  Herr Schaub, vielen Dank für das Gespräch.



Das Interview wurde in Auszügen abgedruckt im KrimiMagazin 2006. www.buchSzene.de

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